Zu meiner Zeit spielten kleine Jungs gerne Quartett. Oben ein Bildchen mit dem Boliden, unten die Leistungsangaben: PS, Drehmoment, Hubraum, Höchstgeschwindigkeit, Preis. Je grösser die Zahl, desto besser. Size matters.

Exzellenz liess sich auf ein paar wenige Parameter reduzieren. Feinheiten wie Gewichts- und Fahrwerksabstimmung, Antriebsart, Bereifung und deren komplexes Zusammenspiel, das letztlich für die Fahreigenschaften viel entscheidender ist als obige Zahlenklaubereien, interessierten uns nicht.

Bürokraten in ganz Europa, so auch in der Schweiz, spielen heute Bildungsquartett. Exemplarisch wird die neue Kompetenzorientierung anhand des Europäischen Sprachenportfolios (ESP) durchexerziert. Was schon bei mechanischen Gegenständen wie Autos keinen Sinn macht, soll nun auf Lernende angewandt werden: Die komplexe Akquisition einer Fremdsprache wird auf den Erwerb griffiger "Kompetenzen" reduziert.

Dass das ESP erst den Anfang markiert und sich die Zuständigkeit des Kompetenzbegriffs beliebig auf jedweden Lebensbereich ausdehnen lässt, zeigt der inflationäre Gebrauch dieses Unwortes, der sich seit den Neunzigern in der Alltagssprache ausbreitet und Wissenschaft wie Werbung erobert hat. Im aargauischen Spreitenbach soll demnächst ein "Kompetenzzentrum" für Nachhaltigkeit entstehen, und die EDK will zusammen mit dem Bund ein nationales "Kompetenzzentrum" für Mehrsprachigkeit ins Leben rufen. Der Begriff suggeriert, dass dort die fähigsten Leute hocken, die Bescheid wissen. Angesichts solcher Kumulation von Kompetenz ist Widerspruch zwecklos.

Begriffe wie Medienkompetenz (mit oder ohne Führerschein) oder Sozialkompetenz haben schon lange die mediale Alltagssprache sowie den Lehrplan 21 erobert, so dass wir sie nicht mehr hinterfragen. Vielleicht, weil sich die meisten durch zusammengesetzte Fremdwörter einschüchtern lassen. In der Volksschule beurteilen die Lehrpersonen die Sozialkompetenz ihrer SchülerInnen neuerdings mit Checklisten. Ein ganzer Strauss von angeblichen Sozialkompetenzen suggeriert Differenziertheit und die erschöpfende Beschreibbarkeit des Individuums. Dass dieser Checklistenfetischismus jede Lehrperson heillos überfordert, ist eine Sache. Wie soll eine Lehrperson gleichzeitig die Führung des Unterrichts, das Zeitmanagement, die Lernziele, das Fordern und Fördern, das empathische Eingehen auf Rückmeldungen der Schülerschaft und alle anderen kognitiven Leistungen erbringen, die der Lehrberuf mit sich bringt, und dabei noch eine Klasse von 25 SchülerInnen in Bezug auf zwölf Unterkategorien der Sozialkompetenz beobachten? Mit diesem Multitasking wäre selbst die gegenwärtige Generation von Computern überfordert; warten wir also auf Windows 99 oder Mac Ultra-Lion ...

Dem Anspruch auf präzise Beschreibung sozialer Kompetenzen gerecht zu werden, ist aber nicht "nur" eine Überforderung; das Unterfangen ist auch zutiefst diskriminierend. Hier wird nicht nur die Leistung und - wie im einstigen Zeugniseintrag "Betragen" - das Verhalten bewertet, sondern die Persönlichkeit des Schülers. Anstatt dass die Lehrperson sich in einer persönlichen Begegnung mit dem Schüler auseinandersetzt und ihm einige Beobachtungen zu seinem Verhalten mit Fein- und Fingerspitzengefühl, mit Empathie und Wohlwollen mitteilt, worauf sich der Betroffene viel eher angesprochen und ernstgenommen fühlt, erhält dieser einen Katalog mit Kreuzchen, den auch der künftige Lehrmeister zu Gesicht bekommt. Während das Gespräch mit dem Lehrer nicht verschleiert, dass es sich hier um die subjektiven Beobachtungen eines Menschen handelt, suggeriert das Kompetenzraster wissenschaftliche Objektivität mit Absolutheitsanspruch. Natürlich wäre das Kompetenzraster auch nicht objektiver, wenn man eine Million Unterkategorien berücksichtigen würde. Denn die Einschätzung jeder einzelnen Kompetenz beruht unausweichlich auf subjektiven Beobachtungen und Werturteilen. Die angebliche Abschaffung des Subjektiven im Dienste der neuerdings sakrosankten Vergleichbarkeit ist ein Potemkinsches Dorf.

Zudem: Wer ist eigentlich sozialkompetent? Marco, der immer schön brav macht, was man ihm aufträgt? Mirco, der im Team immer auf Ausgleich und Harmonie bedacht ist? Oder Marka, die den Lehrer manchmal herausfordert, indem sie die Sinnfrage stellt? Da sich "Kompetenzen" üblicherweise mit "kann-Sätzen" beschreiben lassen, steht eindeutig das Funktionale im Vordergrund. Erwünscht ist das perfekte Rädchen, das wie geschmiert läuft und innersystemisch produktiv ist. Wer aufmuckt, Grundsatzfragen stellt oder bei irgendetwas  nicht mitmachen will, "kann" nicht. Sorry, keine Punkte.

René Machu, Wettingen, ist Gründungsmitglied des Forums Allgemeinbildung Schweiz (fach), das sich kritisch mit den gegenwärtigen Entwicklungen am Gymnasium auseinandersetzt. www.forum-allgemeinbildung.ch